Alltag im Mittelalter: Natürliches Lebensumfeld und menschliches Miteinander, von Schubert, Ernst
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June 11, 2024 15:28
Nicht alles steht in den Sternen...
Inuoj | ________________________________________________________________________________________________________________________________ Und nicht in den Quellen und nicht in der Lebenserfahrung; und doch kommt doch das eine selten ohne das andere aus. ________________________________________________________________________________________________________________________________ Alleine, wie es miteinander am besten zu verbinden sei, darüber gibt es im Bereich der Geschichtsinterpretation immer wieder Streit oder sogar Schweigen; denn Lebenserfahrung und ihre Einbindung in akademisch gewonnene "Erkenntnisse" werden zumeist nicht als normhafter Teil des akademischen Handwerks angesehen. ________________________________________________________________________________________________________________________________ Zufrieden kann man als geschichtsinteressierter Mensch aber eigentlich erst sein, wenn man seine gegenwärtige Existenz in Beziehung zu "möglichen" früheren seiner selbst setzen und damit Gegenwart und Vergangenheit ineinander spiegeln kann. Denn wie will man ein objektives Bild von einer früheren Epoche bekommen, wenn man selbst von der Gegenwart nur ein subjektives Bild besitzt? ________________________________________________________________________________________________________________________________ Holt man als Historiker die Leute da ab, wo sie sind, läuft man Gefahr, mit einer modernen Wort- und Bildsprache (Worte, Gesten, Farbsymbole etc.) zugleich die historischen Inhalte zu verfälschen oder nur eine Geschichtsparabel zu erzählen. ________________________________________________________________________________________________________________________________ Im einen Extrem kommen dann historische Pfuschwerke wie Ridley Scotts Filme "Gladiator" oder "Königreich der Himmel" dabei heraus, im anderen Extrem, Bücher, die nur im Rahmen der Quellen selbst interpretieren, ggf. unter Einbeziehung textlinguistischer Forschung, dabei aber seltsam abstrakt und leblos bleiben. ________________________________________________________________________________________________________________________________ Dass Ernst Schubert mit "Alltag im Mittelalter" beide Extreme vermeidet und -- ähnlich einem Psychologen -- von den Notwendigkeitsgrundlagen menschlicher Existenz bzw. Zivilisation ausgeht, die nun mal von jedem auf Grund allgemeiner Lebenserfahrung nachzuvollziehen sein dürften, ist sein großer Verdienst. Dass dies zu sehr gespaltenen Meinungen unter den Rezensenten führen musste, ist verständlich. ________________________________________________________________________________________________________________________________ Denn Schubert löst hier auch machen wissenschaftlichen Konflikt nicht, wie z.B. den, zwischen dem -- allerdings gespaltenen -- Konsens aller kulturhistorischen Disziplinen, der Menschen habe seine Subjektivität erst im 12.(?), 17.(?), 18.(?) Jahrhundert entdeckt vs. der psychologisch einleuchtenden Vorstellung, der Mensch sei immer das gleiche Wesen gewesen, mit der gleichen Psyche und dem gleichen Körper. ________________________________________________________________________________________________________________________________ Die Lektüre von Schuberts Buch, lässt einen zwar über manche gewagte These und kühne Schlussfolgerung stolpern, doch das ist aus zwei Gründen nicht weiter schlimm: 1. rücken die fundierten und anschaulich wiedergegebenen Quellenkenntnisse manches schiefe Bild von mittelalterlichen Verhältnissen auch bei historisch informierten Lesern zurecht und stopfen maßgebliche Wissenslücken, 2. machen sie einem bewusst, dass sich Geschichte ohne eigenes Nachdenken und ohne Selbstreflexion genauso wenig verstehen lässt, wie die eigene Psyche. Hätte das Buch diese Ecken und Kanten nicht, hätte es nur 4 Punkte verdient. Schuberts historischer Spiegel mag Sprünge haben, aber er ist klarer als die meisten anderen und reichhaltiger an geordneten und doch unterhaltsamen Anekdoten aus den Tiefen früherer Zeit.